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ARCHIV 2006 - Februar 2014
Feministische Kritik und Widerstand
Tagung

Das Verhältnis zwischen politischer Praxis und feministischer Wissenschaft ist gegenwärtig eines der zentralen Themen in den Gender-Studies und den Gesellschaftswissenschaften. In ihren Anfängen war die Herausbildung feministischer Wissenschaft genuin mit sozialen Bewegungen und politischem Protest verwoben: Die Frauen- und später Geschlechterforschung in Westeuropa ging aus politischen Zusammenhängen der Frauenbewegung der 1970er und 1980er Jahre hervor und inspirierte anfangs vor allem die Geistes- und Sozialwissenschaften, später selbst die Naturwissenschaften auf vielfältige Weise, beispielsweise hinsichtlich des Erkenntnisinteresses feministischer Forschung. Insbesondere in den Anfängen des akademischen Feminismus wurde davon ausgegangen, dass sich ein dezidiert kritisches Erkenntnisinteresse, wissenschaftliche Intervention, politische Kritik und Widerstand einander bedingen.

Inzwischen ist die Gender-Forschung in der Mitte der Wissenschaft und Gesellschaft angekommen. Gender Mainstreaming, die wissenschaftliche und politische Forderung, Geschlechtergerechtigkeit in allen gesellschaftlichen Bereichen zu erwirken, durchzieht politische Agenden und Satzungen öffentlicher Einrichtungen und privater Unternehmen. Für die Gender-Forschung bedeutet dies, aus der zuweilen hart erkämpften Nische innerhalb des etablierten universitären Disziplinen-Kanons herauszutreten und zum festen Bestandteil jeder wissenschaftlichen Disziplin zu werden. Doch diese Etablierung der Gender-Forschung in der Breite der Wissenschaft hat ihren Preis: Die feministische Wissenschaft hat die Nähe zum politischen Aktivismus und damit auch ein Stück weit zu den realen Problemen und Unrechtserfahrungen der Bürgerinnen verloren – mit fatalen Folgen für alle Beteiligten. Feministische Wissenschaft, so die inzwischen häufig zu vernehmende Kritik, ist zu akademisch geworden. Auf der anderen Seite gehen feministische Bewegungen, inzwischen hoch professionalisiert und fragmentiert, ihrem Alltagsgeschäft nach, ohne noch Zeit für wissenschaftliche Reflexion zu finden (u. a. Fraser 2009).

Gerade die jüngsten politischen Proteste, wie die „SlutWalks" in den Straßen vieler Großstädte, zeigen jedoch, dass sich mit den mehr oder weniger gelungenen Gender Mainstreaming-Programmendie Kritik an bestehenden gesellschaftlichen Verhältnissen und Praktiken längst nicht erschöpft hat. Gravierende Probleme wie die ungleiche Bezahlung von Frauen und Männern, verschiedene Varianten von Diskriminierungen, neue Formen ökonomischer Ausbeutung, gesellschaftlicher Missachtung und Gewalt in globalen, lokalen und nationalen Kontexten sind durch die Gender Mainstreaming-Diskussionen bisweilen aus dem Blickfeld geraten.

Die feministische Theorie steht somit vor der Herausforderung, alte und neue Formen der Diskriminierung und die verschiedenen Auswirkungen der globalen Wirtschaftsordnung in ihrer sozialen und politischen Komplexität zu reflektieren, ohne den Bezug zu den politischen Protesten, Bewegungen und konkreten Unrechterfahrungen aufzugeben. Nur im Zusammenspiel zwischen politischer Praxis und Wissenschaft, so die Ausgangsüberlegung für diese Tagung, bleibt feministische Wissenschaft für neue gesellschaftliche Entwicklungen offen. Dazu bedarf es der Untersuchung, welche gesellschaftstheoretischen und politikwissenschaftlichen Konzeptionen eine angemessene Beschreibung von Unrechtserfahrungen überhaupt erlauben. Ein neuer Blick auf den Zusammenhang von politischer Praxis und gesellschaftstheoretisch unterfütterter Wissenschaft wird neue Impulse für eine praxisinformierte feministische Kritik geben können.

Vor diesem Hintergrund werden auf der internationalen Tagung Vorstellungen, Konzeptionen und Erfahrungen von feministischer Kritik und Widerstand sowie das Verhältnis von kritischer Wissensproduktion und widerständigen lokalen und globalen Praxen reflektiert. Ziel ist, feministische Politikwissenschaft wieder stärker mit der Reflexion politischer Praxis zu verzahnen. Daher werden theoretische Ansätze und Konzeptualisierungsvorschläge ebenso diskutiert wie empirische Studien, Analysen von widerständigen Praktiken, Imaginationen von Kritik und Widerstand sowie ihre jeweilige Verbindung zueinander. Im Dialog von feministischer Theorie und Praxis sollen Potentiale einer feministisch-gesellschaftskritischen Politikwissenschaft und Praxis ausgelotet werden, die eine Überwindung von ethnischer, klassen- und geschlechtsspezifischer Ungerechtigkeit anstreben. Programm Donnerstag, 12. Januar 2012 14.30   Begrüßung und Einführung Regina Kreide (JustusLiebig-Universität Gießen)/ Brigitte Bargetz (ICI Berlin) Feministische Kritik, feministischer Widerstand – aktuelle Ausgangspunkte 15.00 - 16.30   Uta Ruppert (Goethe-Universität Frankfurt am Main): Dissidenz und Widerstand in globalen feministischen Bewegungen 17.00 - 18.30  Birgit Sauer (Universität Wien): Was macht feministische Politikwissenschaft zu einer kritischen Wissenschaft? Rückblick und aktuelle Herausforderungen 20.00 - 21.30 María Pía Lara (UAM, México): The Feminist Imagination Freitag, 13. Januar 2012 Formen feministischen Widerstands 9.00 - 10.00 Magda Albrecht (Humboldt-Universität zu Berlin): SlutWalks: Radikalfeminismus Meets Popfeminismus 10.00 - 11.00 Christiane Leidinger (FU Berlin): Feministischer Widerstand par excellence? Protestformen und umkämpfte Konzeptionen von Grenzüberschreitungen des Frauenwiderstandscamps im Hunsrück 11.30 - 12.30 Günes Koc (Universität Wien): Feministischer Diskurs und gegenhegemoniale Öffentlichkeit(-en) der Frauenbewegung(en) gegen die vergeschlechtlichten Gewaltverhältnisse in der Türkei 13.30 - 14.30  Birgit Hoinle (Eberhard Karls Universität Tübingen) und Meike Werner (Universität zu Köln): Umkämpfte Territorien – Sexualisierte Gewalt gegen Frauen in Kolumbien und Formen des Widerstands Feministische Kritik in der Politik/Wissenschaft: Erfolge, Hürden,Potentiale 14.30 - 15.30 Tina Jung (Philipps-Universität Marburg): Was ist kritisch an der feministischen Wissenschaft? Potentiale und Probleme eines feministischen Kritikverständnisses 15.30 - 16.30  Katharina Volk (Justus-Liebig-Universität Gießen): Veränderung statt Stillstand. Plädoyer für eine Diskussion über eine feministische Gesellschaftstheorie 17.00 - 18.00 Stefanie Mayer (IHS Wien/Universität Wien): Politik der Differenzen. Weißer feministischer Aktivismus und die De-/Reproduktion von Rassismus Samstag, 14. Januar 2012 Feministische Kritik und Widerstand denken: Neue Ansätze, künftige Perspektiven 9.00 - 10.00 Isabell Lorey (Humboldt-Universität zu Berlin): Politische Theorie und Kritik  ausgehend von Kämpfen 10.00 - 11.00  Maria Dätwyler (Zentrum Gender Studies Basel) und Fleur Weibel (Zentrum Gender Studies Basel): Eine kritische Haltung in paradoxen Verhältnissen. Foucault und Barad im transdisziplinären Gespräch 11.30  12.30  Uta Schirmer (Georg-August-Universität Göttingen): Trans*-queere Praxen und Perspektiven einer Kritik der Zweigeschlechtlichkeit Kritik in Aktion: Theorie und Praxis feministischen Widerstands 13.30 - 15.00  Podiumsdiskussion mit: Barbara Holland-Cunz (Justus-Liebig-Universität Gießen) Ina Kerner (Humboldt-Universität zu Berlin/AK Politik und Geschlecht) Margot Müller (Feministische Partei Die Frauen) Evelyne Y. Nay (Sündikat Zürich/Zentrum Gender Studies Basel) Termin: Donnerstag,  12. bis Samstag, 14. Januar 2012 Schloss Rauischholzhausen (Gießen/Marburg) Anmeldung: Bitte bis spätestens 16. Dezember 2011 bei: Viola Krapp, Justus-Liebig-Universität Gießen, Institut für Politikwissenschaft, Karl-Glöckner-Str. 21 E, Tel. 0641-99-2307, Fax: 0641/99-23079, email:  Viola.Krapp@sowi.uni-giessen.de Ein Anmeldeformular gibt es unter: http://www.politik-und-geschlecht.de/index.htmlKosten: Die Übernachtung im EZ kostet pro Nacht Euro 30,00, Frühstück Euro 8,00, Mittagessen Euro 12,00 und Abendessen Euro 9,00. Veranstalter: Arbeitskreis Politik und Geschlecht in der DVPW (Brigitte Bargetz, Andrea Fleschenberg, Ina Kerner, Regina Kreide, Gundula Ludwig) in Kooperation mit: Heinrich Böll Stiftung Hessen, Arbeitsstelle Genderforschung, Justus Liebig Universität Gießen,
Zentrum für Gender Studies und feministische Zukunftsforschung, Philipps Universität Marburg,
Gerda Weiler-Stiftung Diversity Politics,  Humboldt Universität Berlin und
Politische Theorie, Justus Liebig Universität Gießen 


 

Studienwerk der Heinrich-Böll-Stiftung