Rechenschaft und Entscheidung: Christlich-nationalsozialistische Ethik am Beispiel von Immanuel Hirsch
Vortragsreihe "Von der Moralität des Bösen Zum Verhältnis von Moral, Ethik und nationalsozialistischen Verbrechen"
„Hitler hat den Menschen im Stande ihrer Unfreiheit einen neuen kategorischen Imperativ aufgezwungen: ihr Denken und Handeln so einzurichten, daß Auschwitz nicht sich wiederhole, nicht Ähnliches geschehe. Dieser Imperativ ist so widerspenstig gegen seine Begründung wie einst die Gegebenheit des Kantischen. Ihn diskursiv zu behandeln, wäre Frevel: ihn ihm lässt leibhaft das Moment des Hinzutretenden am Sittlichen sich fühlen. Leibhaft, weil es der praktisch gewordene Abscheu vor dem unerträglichen physischen Schmerz ist, den die Individuen ausgesetzt sind, auch nachdem Individualität, als geistige Reflexionsform, zu verschwinden sich anschickt.“ Seit Adorno diese Sätze formulierte, ist die Bedeutung des Holocaust für die moralische Selbstverständigung der Gegenwart immer stärker hervorgetreten. Deutlicher geworden ist aber auch die Problematik, die in einem solchen Bezug des moralischen Selbstverständnisses auf ein geschichtliches Ereignis liegt. Können moralische Grundsätze überhaupt ein Resultat historischer Erfahrung sein? Wie stehen Genese und Geltung hier zueinander? Welche Probleme ergeben sich für eine „Ethik der Erinnerung“? Die Massenverbrechen der Nationalsozialisten wurden von Rechtfertigungen begleitet, die Versatzstücke moralischer und ethischer Theorien benutzten. Verbrechen bringen zudem oft nachträgliche Rechtfertigungen hervor; diese können wiederum das Moralbewußtsein verändern. In historischer Hinsicht stellt sich damit die Frage: Wie sahen die spezifischen Rechtfertigungsstrategien von Nationalsozialisten aus? Gab es eine nationalsozialistische Ethik, die die Rechtfertigungsstrukturen und moralischen Maßstäbe verschob? In philosophischer Hinsicht wird diese Frage begleitet von einer Reihe von beunruhigenden Fragen: Wie weit und warum können Ethiken selbst der Rechtfertigung von Verbrechen dienen? Was bedeutet die Annahme einer „NS-Moral“ (Kolnai) für unsere Beurteilung der Verbrechen heute? Lassen sich die Rechtfertigungsstrukturen im NS „wertfrei“ beschreiben? Oder fordern sie auf besondere Weise eine Auseinandersetzung mit unseren eigenen Moralvorstellungen heraus – wie es Adorno nahelegte, wie es aber auch Hannah Arendt sah? Was bedeutet das für das Selbstverständnis von Moralphilosophie? Wir, das Fritz Bauer Institut und das Institut für Philosophie der Johann-Wolfgang-Goethe-Universität Frankfurt, laden für das Wintersemester 08/09 in Kooperation mit der Heinrich Böll Stiftung zu einer Ringvorlesung ein, in der beide Aspekte, die „Moral“ und „Ethik“ im NS, als auch die Bedeutung der historischen Besinnung auf die Verbrechen des NS für unser heutiges Moralbewußtsein diskutiert werden sollen. Historisch soll die Frage diskutiert werden, inwieweit man von einer Ethik oder Moral des NS oder im NS sprechen kann, wie weit die philosophischen Ethiken aus der Zeit des NS als Ausdruck einer besonderen, sei es rassistischen, Ethik verstanden werden können. Auf der anderen Seite soll es darum gehen, inwieweit die gegenwärtige Moralphilosophie die historische Erfahrung des Holocaust reagiert hat, und wie weit und in welcher Form sie auf sie reagieren sollte. Programm: Dienstag, 21. Oktober 2008, 18.00 UhrGibt es eine nationalsozialistische Moral?PD Dr. Werner Konitzer, Frankfurt am Main Dienstag, 04. November 2008, 18.00 UhrMoral und Erfahrung: Probleme bei der Analyse von NS-MoralProf. Dr. Herlinde Pauer-Studer, Wien Dienstag, 18. November 2008, 18.00 UhrHolocaust und Holodomor - was lehrt historische Erfahrung über Moral?Prof. Dr. Rolf Zimmermann, Konstanz Dienstag, 02. Dezember 2008, 18.00 Uhr Der moralische Universalismus in der Konfrontation mit der Nazi-Ideologie oder: Lässt sich der moralische Universalismus durch ethnozentrische Ideologien relativieren?Prof. Dr. Ernst Tugendhat, Tübingen Dienstag, 09. Dezember 2008, 18.00 UhrRechenschaft und Entscheidung: Christlich-nationalsozialistische Ethik am Beispiel von Immanuel HirschProf. Dr. Micha Brumlik, Frankfurt am Main Dienstag, 13. Januar 2009, 18.00 Uhr Heidegger und die Zerstörung der EthikProf. Dr. Emmanuel Faye, Paris Dienstag, 20. Januar 2009, 18.00 UhrRecht und Macht. Carl Schmitt und die Moral des NationalsozialismusProf. Dr. Matthias Lutz-Bachmann, Frankfurt am Main Dienstag, 27. Januar 2009, 18.00 UhrHolocaust resentment: thinking about the implications of the claim that the Holocaust is unique and that its evil is beyond comprehensionProf. Dr. Raimond Gaita, London Zur Ringvorlesung findet ein Begleitseminar statt: Von der Moralität des Bösen. Holocaust, Moral und Moralphilosophie heutePD Dr. Werner Konitzer, Frankfurt am Main Jeweils an der Ringvorlesung folgenden Mittwoch, 10.00-12.00 Uhr Campus Westend, Hörsaalzentrum, HZ 8 Ort: Goethe-Universität Frankfurt a. M., Campus Westend, Casino, Raum 1.812, Grüneburgplatz 1, 60323 Frankfurt a. M. Veranstalter: Fritz Bauer Institut in Kooperation mit der Heinrich-Böll-Stiftung Hessen e. V.
Recht auf informationelle Selbstbestimmung?
Videoaufzeichnung der Veranstaltung am 27. Februar 2014 in Frankfurt/M.
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Studienwerk der Heinrich-Böll-Stiftung